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Wieviel Farbe braucht gute Architektur, Claudia Grundies? 
Für Henry Ford konnten seine Kunden noch jede Farbe haben, „solange sie Schwarz ist“. Für Claudia Grundies hingegen sind Farben ein ebenso mächtiges wie unterschätztes architektonisches Gestaltungselement. Im Interview erklärt die Interior Designerin, wie Architektur- und Farbkonzept voneinander profitieren und warum Blau nicht gleich Blau ist.
 
Mehr als drei Farben blau: Farbkarten im Showroom von Interior Designerin Claudia Grundies
 
Am Bau wird Farbe häufig als Deko-Element gering geschätzt und meist als Letztes geplant. Sind Bauherren und Architekten schlichtweg farbenblind? 
Nein. Bauherren legen inzwischen viel mehr Wert auf stimmige Farbkonzepte, und Architekten haben Farben schon immer bewusst angewandt. Le Corbusier beispielsweise setzte sie als raumgestaltendes Mittel ein, wobei seine Farbmaterialien tiefer, mächtiger und in sich harmonischer waren als unsere heutigen Industriefarben. 
Worin liegt der Unterschied?
Le Corbusiers Farben basierten auf natürlichen und mineralischen Pigmenten. Die Farben, die man heute beim Baumarkt oder Großhändler bekommt, enthalten mikronisiertes Titandioxid zum Aufhellen und Ruß zum Abdunkeln. Diese Partikel sind günstig zu haben und industriell zu verarbeiten, Titandioxid verfügt zudem über eine hohe Deckkraft. Leider streuen sie das Licht diffus, anstatt es zu reflektieren. Fürs Auge und Empfinden ist das unangenehm, für die Architektur und Raumwirkung kontraproduktiv.
Ehrlich gesagt, sind mir diese „Fehl-Farben“ bislang nicht ins Auge gefallen.
Der Unterschied würde Ihnen sofort auffallen, wenn Sie Farben mit natürlichen Pigmenten einmal im direkten Vergleich mit Industriefarben sähen. Ich bin vor einigen Jahren durch eine Präsentation auf das Thema aufmerksam geworden, bei der man Natur- und Industriefarben nebeneinander aufgetragen hatte – ein echter Augenöffner-Moment, den ich nur jedem empfehlen kann.
Der Architekt Bruno Taut nutzte Farbe unter anderem, um seiner Waldsiedlung Onkel Toms Hütte Individualität zu verleihen. Die Berliner nannten sein Projekt bald „Papageiensiedlung“. 
Es ist ein verbreitetes Missverständnis, dass Farbe gleich Buntheit ist. Das Gegenteil ist der Fall: Ein architektonisch gutes Farbkonzept ist eines, das der Betrachter gar nicht bewusst wahrnimmt, dessen Wirkung er emotional aber umso mehr spürt. 
Ins Blaue hinein: Flursituation im „Haus am See“
Sitzt auch farblich: Schrankmöbel nach Entwürfen von Claudia Grundies
 
Apropos Wirkung: Was ist dran an der Aussage, Blau wirke beruhigend, Rot hingegen aktivierend? 
Diese Allgemeinplätze sind schon deshalb sinnlos, weil es nicht ein Blau oder ein Rot und dementsprechend auch nicht die vermeintliche Wirkung der entsprechenden Farbe gibt. Interessanter als der angenommene psychologische Effekt sind die tatsächlichen physiologischen Wirkungen der entsprechenden Farben. Helle Farben machen sichtbar, dunkle unbunte Farben unsichtbar, Rot und Grün festigen die Form und sind räumlich präsent, Gelb und warme Gelbanteile hingegen wirken formauflösend und strahlen hervor. Blau und Blauanteile sind ebenfalls formauflösend, weichen jedoch zurück. Setzt man mit diesem Wissen gezielt Farben ein, entstehen Räume und Raumfolgen, die die Orientierung erleichtern und anregen, ohne zu ermüden. 
Ein weiterer Allgemeinplatz: niedrige Decken brauchen einen Weißanstrich, wenn sie höher wirken sollen. Ist da etwas dran? 
Nein. Das Gegenteil ist richtig, denn unser Auge nimmt das Helle zuerst wahr – ein Effekt, den jeder selbst überprüfen kann: Wenn man bei einem Chor- oder Orchesterkonzert auf die Bühne blickt, sind die ersten Musiker, auf die man fokussiert, immer diejenigen mit weißen Hemden oder Kleidern. Weiß ist eine Orientierungsfarbe, die sich in der Architektur als subtiler Wegweiser einsetzen lässt. Und genau so wird eine niedrige Decke, die man weiß streicht, direkt als erstes ins Auge fallen. Decken, die nicht auffallen oder höher wirken sollen, sollte man daher mit Naturpigmentfarben und gleich hell oder dunkler als die Wände streichen. 
Durchgängiges Farbkonzept: Wohnraum im „Haus am See“
 
Bruno Taut ließ als Magdeburger Stadtrat ganze Straßenzüge und selbst das barocke Rathaus farblich übermalen. Sein buntes Treiben verteidigte er mit den Worten: „Farbe ist nicht teurer wie Dekoration mit Gesimsen und Plastiken, aber Ausdruck von Lebensfreude, und mit geringen Mitteln zu geben.“
In jedem Fall verändert Farbe den Blick auf die Architektur, im Guten wie im Schlechten. Ein stimmiges Farbkonzept tritt in einen Dialog mit der Umgebung, dem Licht und der Architektur, hebt das Positive hervor und lässt das weniger Positive zurücktreten. 
Wie gehen Sie beim Entwurf eines Farbkonzepts vor?  
Unsere Arbeit beginnt, sobald der Rohbau steht und man den Einfall des Tageslichts vor Ort erleben kann. Als erstes legen wir die weiße Farbe fest, die das Licht von den größten Flächen reflektiert und die Atmosphäre prägt. Um der Architektur mehr Struktur und Tiefe zu verleihen, fließen Überlegungen zur Differenzierung der Architektur ein: Was soll hervorgehoben, was kaschiert oder geweitet werden? Ein Farbkonzept muss in jedem Raum und im ganzen Gebäude funktionieren und auf das Beleuchtungs- und Materialkonzept des Planers abgestimmt sein. Sobald dann Planer oder Bauherr eine engere Auswahl getroffen haben, lasse ich von jeder Farbe ein raumhohes Malervlies zur Bemusterung vor Ort herstellen. Nur so lässt sich die Raumwirkung einer farbigen Wandfläche vorstellen. 
Wieviel kostet ein solches Farbkonzept? 
Die Naturpigmentfarben der Schweizer Farbmanufaktur kt.color, mit denen ich arbeite, bieten zauberhafte Lichtspiegelungen, schöne Schatten und lebendige Wandflächen. Dafür haben sie auch ihren Preis. Für eine 100 Quadratmeter-Wohnung muss man mit etwa 6.000 Euro allein für das Farbmaterial rechnen. Und dennoch würde keiner meiner Klienten je wieder zu Industriefarben zurückkehren wollen.  
Beste Aussicht: Balkonblick auf die Insel Reichenau
 
„Wer mit dem Licht und der Architektur eines mediterranen Landes aufwächst, hat ganz andere Farben vor Augen als jemand, der im Norden oder in Deutschland aufwächst“, sagt der Designer Konstantin Grcic, der im grauen Wuppertal groß wurde und heute Grautöne als seine Lieblingsfarben bezeichnet. „Nicht ohne Grund sind mattschwarze Braun-Geräte in Deutschland und die rote Valentine-Schreibmaschine in Italien entworfen worden.“ Welche Rolle spielen Herkunft und kulturelle Prägung bei der Farbwahrnehmung?
Eine Menge, denn tatsächlich herrscht in jedem Breitengrad ein anderes natürliches Licht. Die Architektin und Designerin Eileen Gray hat in ihrem Haus am Cap Martin an der Cote d’Azur Farben verwendet, die sich auf die umgebende Landschaft beziehen. Sie ließ die ostwärts liegenden Innenwände bewusst mit Naturpigmentfarben streichen, die das Morgenlicht besonders gut reflektieren. 
Der Künstler Yves Klein war berühmt für seine monochromen Bilder in einem perfekten Ultramarinfarbton. Das Problem: Das „International Klein Blau“, das er zusammen mit dem Farbenhersteller Rhone Poulenc auf Kunstharzbasis entwickelt hatte, sonderte toxische Dämpfe ab. Farbe kann offensichtlich tödlich wirken.
Ein natürliches Blaupigment, das die gleiche phantastische und zudem raumauflösende Wirkung im Schatten entwickelt wie Kleins synthetisches Blau, ist das metamorphe Gestein Lapislazuli, das unter anderem in Afghanistan abgebaut wird. Jan Vermeer verwendete in seinem Bild „Das Mädchen mit dem Perlenohrring” Lapislazuli für die Farbe des Tuches. 
Die Frage, die Sie als Farbexpertin vermutlich nicht mehr hören können, ist die nach ihrer Lieblingsfarbe. Stimmt’s? 
Richtig. Aber ich kann Ihnen verraten, dass ich klare, helle Grautöne sehr mag. 
Ein Raum für blaue Stunden: Schlafzimmer im „Haus am See“ (Farbkonzept: Claudia Grundies)
 
Zum Abschluss noch ein paar fixe Fragen (bitte direkt und ohne viel Nachdenken beantworten):
Das wollte ich als Kind werden:
Erst Detektivin, später Innenarchitektin.
Der beste Rat meiner Eltern lautete:
Bilde dir deine eigene Meinung und vertrete sie.
Jemand, von dem ich enorm viel gelernt habe:
Meine Tante, selbst Textil- und Modedesignerin, die mir in vielerlei Hinsicht ein kreatives Umfeld bereitet hat.
Mein verkanntestes Talent:
Ich glaube, die sind alle bekannt.
Etwas, mit dem ich meinen Unterhalt verdienen könnte, sollte es als Architekt mal nicht mehr klappen:
Als Gärtnerin.
Eine Idee, die ich eines Tages definitiv noch umsetzen werde:
Die Innen- und Außengestaltung eines Hotels.
Mein guter Rat an jemanden, der/die es als Innenarchitekt zu etwas bringen will: 
Sich nicht mit Trends und Moden, sondern mit dem Ort, seinen Materialien, dem Licht und vor allem mit dem Nutzer auseinanderzusetzen. 
 
CLAUDIA GRUNDIES
Die Interior Designerin Claudia Grundies gründete nach ihrem Studium in Trier und Stationen in Architekturbüros in Luxemburg und Basel ein Büro für visuelle Kommunikation, das vor allem haptische und räumlich wirkende Musterkollektionen und Präsentationen für die Papierindustrie entwickelte. Heute lebt und arbeitet die Diplom-Designerin in einem rundum renovierten Sechziger Jahre-Haus am Bodenseeufer. Im „Haus am See“ entwickelt sie im Auftrag von Bauherren und Architekten Farbkonzepte mit Naturpigmentfarben und naturalistische Pflanzkonzepte für Gartenräume. Einblicke in Claudia Grundies „Haus am See“ gibt es hier.
 
Text:
Harald Willenbrock

Fotos:
Tom Ziora 
 
Licht und Weite auf engem Raum: Stimmiges Farbkonzept im „Haus am See“.

 
 
Alles für Ihr Projekt. Alles außer gewöhnlich. Alles aus einer Hand. hager.de/arc
 
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