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Macht Architektur glücklich, Giorgio Gullotta?  
Ungeschliffene architektonische Diamanten entdecken und aufpolieren – das ist eine der Spezialitäten Giorgio Gullottas. Im out of the box-Interview spricht der Hamburger Planer über seine strapaziösen Anfangsjahre in einem berühmten Architekturbüro, die Bedeutung seines Bauchgefühls und warum er nach wie vor ausschließlich mit der Hand zeichnet.
 
Zweites Leben für einen Maschinenraum: Apartment im Waterworks-Ensemble am Hamburger Elbufer
 
"Man kann in jedem Gebäude glücklich oder unglücklich sein", heißt von Ihrem Kollegen Rem Kolhaas, "aber manche Gebäude machen einen unglücklicher als andere." Hat Kolhaas Recht? 
Ich glaube, es sind eher die Protagonisten, die es unglücklich anstellen als die Gebäude. Aber natürlich hat jedes Haus einen gewissen Spirit. Beim Projekt Schloss Düneck beispielsweise bin ich mit dem Käufer durch diese völlig verbaute Kiste gegangen und wusste gleich: Da wird was draus. Umgekehrt stand ich neulich in einer alten Hamburger Industriehalle, die zum Coworking-Space umgebaut werden sollte und habe abgewunken, weil der Spirit einfach nicht stimmte.
Worin manifestiert sich der gute Geist eines Gebäudes?
Das kann ich gar nicht genau sagen, aber ich spüre ihn einfach. Genauer gesagt: Mein Bauch fühlt ihn.
Sie arbeiten bereits seit über 28 Jahren als Architekt. Entwickelt sich so ein Bauchgefühl mit der Erfahrung? 
Nein. Josef Viehhauser, der Chef des legendären Restaurants Le Canard und langjährige Untermieter beim Büro GMP Architekten, hat mir mal etwas sehr Kluges gesagt: „Geschmack kann man nicht lernen. Entweder man hat ihn – oder eben nicht.“ Genauso ist es mit dem Bauchgefühl und der Architektur. Und mein Bauchgefühl hat mich noch nie getäuscht. In den Fällen, wo mich mein Verstand zwang, ein Projekt zu übernehmen, obwohl mein Bauchgefühl es eigentlich besser wusste, habe ich es am Ende immer bereut. Insofern muss ich mich korrigieren: Das Gespür für Architektur, für die Substanz eines Gebäudes und seine Potenziale wächst durchaus mit der Zeit. Nämlich aus schmerzhaften Erfahrungen. 
Sie waren Meisterschüler Meinhard von Gerkans und haben von 1994 bis 2000 bei GMP Architekten gearbeitet – einer großen Architekturfabrik, die bekannt war für große Projekte und mindestens ebenso große Ansprüche an ihre angestellten Architekten. 
Stimmt. Ich war dort zu einer Zeit, in der deutsche Büros wie GMP Architekten, Christoph Ingenhoven oder BotheRichterTeherani Maßstäbe in der deutschen und internationalen Architektur setzten. Im GMP-Büro am Hamburger Elbhang gab es die Rotunde, unter deren Dach die beiden Inhaber saßen, weiter unten weitere Zeichenräume, unter anderem die sogenannte Galeere. Dort zeichneten Dutzende Architekten und Architektinnen dicht an dicht in einer Reihe sitzend. Tagsüber bearbeiteten sie dort die Projekte, abends und am Wochenende die Wettbewerbe. Geschlafen wurde wenig, gelacht viel. Es war eine super Atmosphäre und es hat Spaß gemacht, dort zu arbeiten.
Ausgezeichnet mit dem Fritz Höger-Preis für Backsteinarchitektur: Gullottas Apartmenthaus in der Berliner Singerstraße
 
Dennoch: Eine derartige Arbeitskultur könnte sich heute kein Büro mehr leisten. Die Wutausbrüche des einen Inhabers waren legendär. 
Sicher nicht. Aber es war auch ein Privileg, für eines der maßgeblichen Büros jener Zeit zu arbeiten. Und ich kenne kein Architekturbüro mit einem derart starken Zusammenhalt – trotz oder vielleicht auch wegen der Strapazen. 
Apropos vergangene Zeiten: Sie sind bekannt dafür, immer noch jeden Entwurf zu zeichnen. Mit der Hand.
Richtig. Wer zeichnet, visualisiert das Wesentliche. Computer hingegen spucken Maßketten aus, die es am Bau teilweise gar nicht gibt, ihre perfekten Visualisierungen lassen keinerlei Interpretationsspielraum für den Betrachter. In einer Handzeichnung hingegen kann jeder Betrachter das sehen, was er sehen will, weil sein Gehirn die Zeichnung weiterdenkt. Handzeichnungen sind daher sehr wirkungsvoll, wenn man Bauherren überzeugen will. 
Mondän modern: Wiederbelebung des Schloss Düneck in Schleswíg-Holstein
 
Das ist eine Disziplin, in der Sie offensichtlich recht erfolgreich sind. Für Projekte wie den Hamburger Contumazstall, den Sie vom Viehstall zum Büroloft umgebaut haben, trieben Sie selbst den Investoren auf. 
Den Contumazstall auf dem Gelände des Hamburger Fleischgroßmarktes hatte ich jahrelang immer wieder auf dem Weg zu einer Baustelle auf dem Gelände gesehen. Ein völlig verschandelter, verfallener Rinderstall aus den 1890er Jahren, aus dem man – da war ich mir sicher – etwas machen könnte. Aber damit war ich der einzige. Also habe ich einen Geldgeber gesucht, mit dem ich es umsetzen konnte.
Architekt sucht Investor: Können Sie dieses Modell empfehlen?  
Häufig geht es gar nicht anders, weil andere in Gebäuden und Grundstücken nicht die Potenziale erkennen. In so einem Fall sage ich den potenziellen Investoren meist: „Wir machen mal ein Konzept für Sie, das kostet Sie erst einmal nichts. Aber wenn es Sie überzeugt, dann bauen wir.“ Auf diese Weise habe ich immer wieder Auftraggeber akquiriert.
 
Vom Viehstall zur Arbeitsstätte: Contumazstall im Hamburger Schanzenviertel
 
Wie kompromissbereit muss man als Inhaber eines Architekturbüros sein, was seine Bauherren betrifft? „Wenn wir nur für Auftraggeber arbeiten würden, die edel, gut und hilfreich sind, hätte ich genau zwei Mitarbeiter und einen Hund“ hat der Designer Erik Spiekermann mal eingeräumt. 
Man muss als Architekt schon bereit sein, seinen künstlerischen Anspruch hin und wieder etwas herunterzufahren und Investorenarchitektur zu schaffen. Auch wenn der Begriff natürlich unsinnig ist, weil jede Architektur einen Investoren hat und das nicht zwangsläufig bedeutet, sich von guter Architektur zu entfernen. Bei uns ist es aber glücklicherweise so, dass wir mehr Projekte haben, als wir mit unseren zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schaffen können.
Wiederentdeckt und aufgemöbelt: Interiors im Hamburger Contumazstall (mit Berker Serie 1930)
 
Ein paar fixe Fragen zum Schluss – bitte spontan und ohne viel Nachdenken beantworten. Los geht’s!  
Das wollte ich als Kind werden:
Ich war ein Fischer Technik-Freak und wollte definitiv zum Bau.  
Der beste Rat meiner Eltern:
Geh’ zur Schule (den Rat habe ich ignoriert). Und: Lies‘ viel (daran halte ich mich noch heute).  
Jemand, von dem ich enorm viel gelernt habe:
Volkwin Marg und Meinhard von Gerkan. Der strategische Umgang mit Architektur, der versierte Umgang mit Bauherren – das konnte niemand so gut wie die beiden. 
Mein verkanntestes Talent:
Weiß ich nicht. Vermutlich bin ich mittlerweile ein derartiger architektonischer Fachidiot, dass ich nicht einmal mehr weiß, was ich sonst noch könnte.
Etwas, mit dem ich auch meinen Unterhalt verdienen könnte, sollte es als Architekt nicht mehr klappen:
Als Zimmerer. Nachdem ich die Schule abgebrochen hatte, habe ich erst einmal eine Zimmererlehre absolviert. So bin ich zur Architektur gekommen.
Eine Idee, die ich eines Tages definitiv noch umsetzen werde:
Mir selbst ein Haus zu bauen.
Mein guter Rat an jemanden, der/die es als Architekt zu etwas bringen will:
Schauen, was andere Architekten machen und gemacht haben. Reisen. Die Architekturgeschichte studieren und einen Respekt dafür entwickeln, was die Architekten früherer Tage gebaut haben. Es gibt ja alles schon – wir interpretieren es nur immer wieder neu. 
 
GIORGIO GULLOTTA
hat in Koblenz Architektur studiert, bevor er bei GMP Architekten in Hamburg „einstieg und sich als Quereinsteiger zum Meisterschüler Meinhard von Gerkans hocharbeitete“, wie er sagt. Seit 2000 ist er selbständiger Architekt. Gullotta und seine zehn Mitarbeitenden arbeiten heute von Hamburg und Como aus unter anderem am Boutiquehotel „NewBerlin“, der Sanierung und Wiederbelebung des schleswig-holsteinischen Schlosses Düneck und einem Mehrfamilienhaus in Hamburg-Fuhlsbüttel. Für das Apartmenthaus Singerstraße/Berlin wurde sein Büro mit dem Fritz Höger-Preis 2020 für Backsteinarchitektur in der Kategorie Wohnungsbau/Geschosswohnungsbau ausgezeichnet.

www.giorgiogullotta.com
 
Text:
Harald Willenbrock

Fotos:
Portrait Giorgio Gullotta © Sven Jacobsen, www.svenjacobsen.com | Maschinenhalle WaterWorks Hamburg © Mark Selen, www.seelenplus.com | Apartmenthaus Berlin Singerstrasse, Contumazstall Hamburg © Jochen Stüber, www.jochenstueber.de | Schloss Düneck, Moorrege © Giorgio Gullotta Architekten
 
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Stefanie Wahl,
Hager Architektenkommunikation
 
 
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